Gesichter im Eis – Vernagtferner
Noch vor dem ersten Tageslicht brechen wir von unserem Biwak neben dem Gletscherfluss auf, aber die Sterne sind so hell, dass wir keine Stirnlampen brauchen. Kurz vor Sonnenaufgang herrscht in dieser urtümlichen Landschaft eine magische Stimmung, in der die Konturen der rauen Oberfläche des Eises und die dynamischen und gleichmäßigen Schwünge seines Flusses besonders deutlich hervortreten. Die Düsternis und Kälte in dieser Landschaft hat gleichsam etwas beruhigendes und das regelmäßige Knarzen unserer Steigeisenschritte ist ein passender Soundtrack.
Wir sind beide zum ersten Mal auf den Ötztaler Gletschern unterwegs. Die großzügige Weitläufigkeit der eher flachen Hochgebirgslandschaft erinnert an ferne Länder. Sogar die Gipfel wirken hier eher zahm und statt steiler stolzer Felsen scheinen die Berge hier ins Tal zu fließen und zeugen darin von den einst tatsächlich bis tief hinab reichenden Gletschern.
Wir haben uns im Ötztal für den Vernagtferner als Protagonisten unseres Projekts entschieden, weil er mit seiner über einhundertjährigen Forschungsgeschichte neben den bergsteigerischen Möglichkeiten vor allem wissenschaftliche Tiefgründigkeit verspricht. Es ist gut möglich, dass der Vernagtferner sogar der am besten erforschte Gletscher weltweit ist.

Als die Sonne endlich mit goldenem Licht die Gebirgsspitzen ringsum wachgeküsst hat und schließlich auch uns erreicht, sind wir schon unterhalb des Brochkogeljochs, über das wir hinüber zum Anstieg auf die Wildspitze gelangen. Der Gletscher ist recht flach und je höher die Sonne steigt, umso mehr Wasser fließt über seine Oberfläche. Es gräbt sich windend und wirbelnd Wege durch den Stoff seiner Existenz. In tiefen türkis leuchtenden Gletschermühlen wird das Eis in eleganten Spiralen ausgespült. Das Gurgeln und Plätschern klingt fröhlich, wenngleich es doch von dem so unabwendbaren Ende kündet.
Unterhalb des Gipfels wird es plötzlich unerwartet voll. Die meisten Bergsteiger sind über den Normalweg aufgestiegen und der Blick in die Spur zum Gipfel lässt an eine Völkerwanderung denken. Die Stimmung ist auch am Gipfel noch sehr freundlich und kameradschaftlich, gemeinsam genießt man den überwältigenden Weitblick. Christian und ich sehen die Gipfel der Berge, die wir im Rahmen unseres Projektes schon besucht haben, aber auch einige jener, die uns noch erwarten. Mitten im Genuss der Gegenwart hat sogar die Vorfreude auf den nächsten Sommer noch Platz.
Im Tal hatten wir es hier bisher schwer, die richtigen Gesprächspartner zu finden. Immer wieder begegnete uns das Argument, dass das Schmelzen der Gletscher doch einfach Teil eines natürlichen Prozesses sei. Die Unvollständigkeit dieser Aussage macht mich wütend, andererseits empfinde ich es gerade in diesen Gesprächen als wichtig, ruhig und sachlich zu bleiben.
Dieser Prozess wäre dann natürlich, wenn er sehr viel langsamer vonstatten ginge, so wie es den Kreisläufen der Erde entspricht. Was aktuell hingegen passiert, und auch hier im Ötztal ganz offensichtlich vor uns liegt, hat damit noch kaum etwas zu tun. Es ist ein Abbild dessen, was unsere moderne Gesellschaft insgesamt prägt: Alles wird schneller, weil wir es so wollen. Ich denke an einen Satz unseres Gesprächspartners am Großglockner, dem ehemaligen Bergführer Engelbert Gassner, der dieses Phänomen auch bei den Bergsteigern heute beobachtet: „Die Leute finden das langsame Hereinwachsen in ein Können nicht mehr so interessant wie das Ziel. Den Leuten geht es eben nur noch um ihr Ziel, oder um den Gipfel und nicht mehr so sehr um den Weg dorthin.“

Und so haben auch wir beschlossen im Projekt einen Gang herunterzuschalten und für das Ötztal auf eine Gesprächspartnerin zu warten, die wir aktuell aufgrund der Corona-Pandemie nicht persönlich treffen können. Heidi Escher-Vetter ist eine Glaziologin, die den Gletscher besser kennt als viele Anwohner, da sie über vierzig Jahre ihres Lebens der Erforschung und Vermessung des Vernagtferners gewidmet hat. Wir sind gespannt, was sie uns über diese Zeit und über die Entwicklung des Gletschers berichten wird.

Der österreichische Alpenhauptkamm wird von unzähligen kleinen und einigen größeren Gletschern gekrönt. Zusammen haben sie noch eine Fläche von 450 km². Die Ötztaler Alpen sind anteilsmäßig ganz vorne mit dabei: Keine andere Berggruppe der Ostalpen weist eine so große Fläche in Höhenlagen über 3.000 Meter auf wie sie. Mit dem Gepatschferner, dem Taschachferner, dem Gurgler Ferner, dem Vernagtferner und dem Hintereisferner sind die Ötztaler Alpen das am stärksten vergletscherte Gebiet im Land.
Alle Fotos (c) Christian Bock
1. Gletscherbericht des ÖAV, Februar 2016, https://www.alpenverein.at/portal_wAssets/docs/service/presse/2016/Bergauf_02_2016_Gletscherbericht_Fischer.pdf