Gesichter im Eis – Ortler

Mit dem Ortler, das war Liebe auf den ersten Blick. Ich erinnere mich genau daran, als ich auf meiner Solo-Ost-West-Traverse der Alpen 2017 über das Madritschjoch kam und plötzlich das alpine Dreigestirn aus Ortler (3.905m), Zebrù (3.745m) und Königsspitze (3.745m) vor mit lag. Der Ortlergipfel hüllte sich in Wolken und es war gerade das geheimnisvolle, das mich an ihm fesselte.

Keine drei Tage später stieg ich zum ersten Mal hinauf. Unterwegs umrundeten wir massive Gletscherspalten oder überquerten sie auf Leitern. Das teils steile und harte Eis entblößte düstere Abgründe und gleichzeitig konnte ich die Verletzlichkeit dieser Materie deutlich an den hellblauen tropfenden Rändern der Spalten erkennen. Plötzlich wurde mir mit Wucht klar, dass es eben diese Ambivalenz aus Kraft und Fragilität ist, die mich an Gletschern so tief berührt. Denn ich empfinde die Nähe zwischen diesen scheinbaren Gegensätzen als etwas Grundmenschliches.

Roman ist ein weiterer Grund, der dazu beigetragen hat, dass ich mich in diese Region verliebt habe. Er hat es mir mit seiner verschmitzten Art von Anfang an angetan. So habe ich den Schäfer, Skilehrer und dienstältesten aktiven Bergführer in Sulden jedes Mal auf eine Pizza getroffen, wenn ich hier war. Mit Roman ist die Idee für das Projekt „Gesichter im Eis“ entstanden, denn er trägt für mich die imposante Weisheit und gleichzeitig die gurgelnde Frische des Gletschereises in sich. Leider ist Roman 2020, vermutlich an den Spätfolgen einer schweren Kopfverletzung durch einen Steinschlag gestorben. Seine zuversichtliche Ruhe, seine lautlosen Schritte auf dem Gletschereis, sein entschiedener Händedruck und sein verschmitztes Lachen unter den buschigen weißen Koteletten werden mir fehlen. Aber bevor er gegangen ist, durfte ich von Roman eine ganze Menge über die Berge und das Bergsteigen lernen und er hat mir viel von der Gletscherlandschaft am Ortler und ihrer Entwicklung in den letzten Jahrzehnten erzählt. 

Ich selber war seit 2017 über verschiedenen Routen noch drei weitere Male auf dem Ortler. Und jedes Mal hat es mich erschüttert, wie viel des Eises wieder im Vergleich zum Vorjahr verschwunden ist. Das Abschmelzen führt auch dazu, dass der Normalweg von Jahr zu Jahr schwieriger wird, man immer mehr Felskontakt hat und die Steinschlaggefahr signifikant steigt.

Roman sagt, dass es sich zwar früher auch schon verändert habe, aber eben nicht so schnell und nicht so sichtbar. Das lag auch daran, dass es damals eben viel mehr Schnee gab im Winter. „Die letzten zehn Jahre ist es dann aber rapide gegangen. Das ist schon brutal! Alles passierte auf einmal plötzlich. Es war mit einem Schlag Sommer, alles ist ganz schnell geschmolzen und es gab deshalb massive Lawinen.“ Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten solcher Extremwetterereignisse maßgeblich. 

Als ich 2019 mit Christian auf den Ortler steige, fällt mir insbesondere in der steilen Wand oberhalb des Bärenlochs auf, wie viel Eis abgebrochen ist. Es ist, als blicke man in eine klaffende Wunde, in der dunkel der blanke Fels gleich einem Knochen sichtbar wird. Wir übernachten im Lombardi-Biwak auf dem Tabarettagrat, und nachts hören wir das Grollen des brechenden Eises, ein Geräusch, das unter den Umständen für mich klingt, als würde die Erde damit ihre Schmerzen ausdrücken. 

Als wir am nächsten Morgen auf dem Gipfel stehen, ist das Glücksgefühl trotzdem wieder überwältigend. Ich glaube es überkommt mich deshalb, weil ich eben als kleiner Mensch an einem höchsten Punkt stehen kann, um den herum alles am Horizont in die Rundung des Planeten abzufallen scheint. Gerade diese Momente sind es, die unmissverständlich deutlich machen, dass wir Menschen ein kleiner Teil des großen Ganzen sind und dass wir als solche auch eine Verantwortung für den Schutz unseres Heimatplaneten tragen. 

Die Gletscher am Ortler liegen im Westen Südtirols, in der Region Vinschgau, welche sich nahe der Staatsgrenze zur Schweiz befindet. Die Entwicklung des Gletschers unterscheidet sich deutlich von anderen AlpengIetschern. Hier kam es schon viel früher, nämlich zwischen 1817 und 1819 (sonst erst etwa 1860) zu einem Höchststand, der nach einem Vorstoß von 1.200 Metern, bei etwa drei Metern am Tag, sogar zur Räumung einer Region des Suldentals führte. Seither allerdings zieht sich der Gletscher zurück, wie überall natürlich insbesondere seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Allein im Jahr 2002 gab es einen Rückgang um 116 Meter, was hier allerdings insbesondere auf hohe Sommertemperaturen zurückzuführen ist.

Alle Fotos (c) Christian Bock

Ana Zirner
Ana Zirner

Ana Zirner ist als Bergsportlerin Mitglied der POW Riders Alliance. Als Autorin erschienen von ihr im Piper Verlag bisher die Bücher ALPENSOLO (2018) und RIVERTIME (2020).