Gesichter im Eis – Dachstein
Vor uns breitet sich eine Mondlandschaft aus, die am Horizont im Südwesten jäh von dem majestätischen Dachsteinmassiv begrenzt wird. Bald sind wir nur noch winzige Pünktchen in dieser Welt aus mit weißen Schneeflecken und struppigem Latschengewächs gesprenkelten Karstgestein. Bei genauem Hinsehen wirkt es als sei das Gestein mitten im Fluss erstarrt, Wellen und Strudel bilden wundersame Formen mit teils scharfen Kanten. Sie zeugen von den früheren Gletscherströmen.
Als wir am Krippenstein, oberhalb des Hallstätter Sees gestartet sind war es schon spät. Nach wenigen Stunden finden wir knapp unterhalb des Taubenkogels einen Biwakplatz. Neben einem Altschneefeld bietet eine Mulde etwas Schutz vor dem eisigen Wind. Das Wetter ist durchwachsen, aber zu Sonnenuntergang auf dem Taubenkogel werden wir mit einem fantastischen Lichtschauspiel entschädigt. Hier oben wird uns ein tiefer Einblick in den Hallstätter Gletscher gewährt und ein strahlend türkiser Eissee wirkt wie ein Diamant, der in seinen Schoß geworfen wurde.
Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg in Richtung Schladminger Gletscher. Bis zum nördlichen Anstieg auf den Gjaidstein ist es ruhig, die dicken Wolken scheinen mit ihrer langsamen Bewegung das Knirschen unsere Schritte zu dämpfen. Wir genießen die Stille, reden wenig, lassen unseren Körpern die nötige Zeit, um die Atmosphäre zu verinnerlichen. Alles andere wäre unpassend angesichts dieser urzeitlichen Landschaft. Bis zum Jahr 1850 ist der Schladminger Gletscher stetig gewachsen. Seitdem zieht er sich zurück. Anfangs langsam, in den letzten Jahren sehr schnell. Im Vergleich zur Geschichte eines Gletscherlebens ist ein Menschenleben so kurz, denke ich, während ich die Metallmasten betrachte, die sich in dem Gletscherskigebiets vor uns aus der weißen Fläche hervorbohren. Das Bild erinnert mich unweigerlich an die Drähte nach einer Knochen-OP und ich empfinde bei dem Anblick Schmerzen.

Die Dachstein Gletscherwelt ist heute insbesondere für dieses Skigebiet und den ganzjährig betriebenen Tourismus an der Bergstation bekannt. Dieser bietet neben metallgewaltigen Aufbauten wie einem Skywalk, einer Hängebrücke und einer Zubringerrolltreppe auch einen mitten in den schrumpfenden Nährboden des alten Gletschers gefrästen „Eispalast“, in dem man bunt beleuchtete Eisskulpturen – beispielsweise eine Lokomotive oder einen Pharao – besichtigen kann… Die Region wirbt dabei geradezu zynisch mit einem Besuch im „ewigen Eis“.
Ich denke an den über siebzigjährigen Klaus Hoi, den wir hier im Tal kennengelernt haben. Er ist ein legendärer und bekannter Kletterer und Bergführer der Region. Sein Leben ist vom Engagement für den Schutz seiner Heimatregion geprägt. In den Siebzigerjahren konnte er mit seinem vehementen Protest verhindern, dass ein großer befahrbarer Tunnel durch den Koppenkarstein gesprengt wurde. Beliebt machte er sich damit in der Region nicht, und wirklich aufhalten konnte er die weitere Entwicklung auch nicht. „Naja, die Berge sind den Leuten scheinbar nicht mehr genug“ sagte er uns dazu traurig schmunzelnd. „Das ist wohl die moderne alpine Welt… Ich war immer der Meinung, dass die Gegend hier nicht so viele Leute aushält.“
Ich mache an der Bergstation ein paar Interviews mit den Nutzern dieses Disneylands, und Christian findet einige passend irrwitzige Fotomotive dazu. Dann passieren wir im Laufschritt die von Pistenfahrzeugen auf den Gletscher tätowierte Autobahn, und gelangen schließlich über die Steilnerscharte hinüber zu den Gosau Gletschern, wo es wieder ganz ruhig ist. Wir begegnen niemandem, was aber durchaus am wieder dunkler gewordenen Wetter liegen mag. Wir stellen uns vor, wie es für Klaus war, als er in den Fünfzigerjahren, lange vor dem Bau der Bergbahn, zum ersten Mal hier oben war. „Ich habe das Gebirge noch so gesehen, wie es mal war. Da gab es noch keine Wege. Das war noch sehr abenteuerlich damals.“ Während wir uns durch Schnee und Wind kämpfen bin ich dem Wetter ein bisschen dankbar. Auch wenn wir heute in den Alpen weitgehend auf Wegen und im Fels oft mit Hilfe von Metall unterwegs sind, so bewahrt die Eigenwilligkeit des Wetters am Berg doch auch für uns noch ein bisschen Abenteuer. Wie um das zu unterstreichen, geraten wir bei unserem abendlichen Abstieg noch in strömenden Regen.

Während ich also triefend einen Fuß vor den anderen setze, denke ich zurück an die letzten Tage und in mir bleibt ein Widerspruch hängen: Vor dem inneren Auge meiner Erinnerung tauchen die mächtigen Gletscherflächen und Geländeformen auf und ich empfinde eine zaghafte Zuversicht, dass eine so monumentale Kraft nicht von ein paar Menschengenerationen zerstört werden kann. Doch dann fällt mir ein, was Klaus Hoi gesagt hat: „Das Recht des Stärkeren hat Gültigkeit, alles in der Natur in Besitz zu nehmen und nach seinen Bedürfnissen zu formen.“ Und auf einmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass er damit falsch liegt.

Das Gletschergebiet rund um den Hohen Dachstein (2.995 Meter) in Oberösterreich und der Steiermark umfasst mehrere, früher miteinander verbundene Einzelgletscher. Dank ihrer Ausrichtung nach Norden und durch die sie umrahmenden hohen Grate, ist das alte Eis hier vergleichsweise gut geschützt. Heute noch nennenswert vorhanden sind der Hallstätter Gletscher im Nordosten des Hauptgipfels, der Schladminger Gletscher im Osten, sowie der Obere- und Untere Gosau Gletscher, die sich nordwestlich des Großen Dachstein befinden. Einst, noch zusammenhängend, war der Dachsteingletscher eine der am stärksten vergletscherten Regionen der Ostalpen.
Alle Fotos (c) Christian Bock